Brauchen wir wieder Benimm-Unterricht in der Schule?
Es ist nicht nur der in der Gegend liegende Müll. Was sind das für Leute, die Rettungskräfte an der Rettung von Leben hindern? Was sind das für Leute, die Feuerwehrzufahrten zuparken. Was sind das für Leute, die ihre defekte Waschmaschine zum Sperrmüll anderer stellen, die dann selbstverständlich nicht mitgenommen wird und der andere sich um die Entsorgung kümmern und dafür bezahlen muss?
„Warum schmeißen die ihren Müll hier im Wald weg, haben ihre Eltern ihnen nicht beigebracht, dass man das nicht macht?“ kommt mir eine ältere Frau beim Spazierengehen entrüstet entgegen. Und mir fallen gleich die mit Tüten und Bechern von Fastfoodketten verdreckten Autobahnabfahrten und Straßenränder ein, Kinder, die ihren Müll im Vorbeigehen einfach über meinen Gartenzaun werfen und mich versuchten anzuspucken, als ich ihnen sagte, dass sie das bitte wieder aufheben sollten und viele Müll-Geschichten mehr.
Aber es ist nicht nur der Müll.
Ist Rücksichtnahme auf andere aus der Mode gekommen? Da werden die lärmenden Gartengeräte bevorzugt zu Zeiten der Mittagsruhe – hah, Mittagsruhe, schon mal gehört? – hervorgeholt oder der Nachwuchs zum Lärmen auf die Straße geschickt. Schichtarbeiter, Senioren, andere Familien mit Kleinstkindern, die um Mittagsschlaf bemüht sind? Pffffft, mir doch egal, ich muss das jetzt machen, will später schließlich noch Kaffeetrinken fahren.
Was ist da schief gelaufen? Normalerweise sagt man doch, wenn man etwas im Kindesalter lernt, beherzigt man das für sein ganzes Leben. Schlechte Angewohnheiten oder gleich einen schlechten Charakter im Erwachsenenalter abzutrainieren geht nur schwer, wenn überhaupt. Aber merken die Müll-Wegschmeißer, Randalierer, Rettungskräfte-Behinderer denn überhaupt, dass sie im Unrecht sind? Oder fehlt ihnen der moralische Kompass? Hat ihnen niemand beigebracht, dass man gewisse Dinge einfach nicht macht? Oder haben ihre Eltern ihnen das schon so vorgelebt?
Dann komme ich leider zu dem Schluss, dass spätestens die Schule da ansetzen muss, denn nicht alle Kinder gehen auch in den Kindergarten. Irgendjemand muss den Kindern doch beibringen, dass sie nicht alleine auf der Welt sind und Rücksicht auf andere nehmen müssen. Bestimmte gesellschaftlich Konventionen wie „nicht Müll in der Landschaft entsorgen“, „kein fremdes Eigentum beschädigen“ oder“keine Geschäfte plündern“ ergeben sich anscheinend nicht von allein und müssen wie die Rechtschreibung erlernt werden. Den Amerikanern muss schließlich auch in der Gebrauchsanweisung mitgeteilt werden, dass sie ihre Katze nicht in der Mikrowelle trocknen dürfen.
Verhindert man die Selbstentfaltung des Kindes, wenn man es darauf hinweist, dass es andere weder anspucken, treten noch erpressen darf? Dass die Polizei und das Eigentum anderer zu respektieren ist und dass Wände beschmieren nicht zur Verzückung der Geschädigten führt, auch wenn die Eltern zu Hause es vielleicht ganz toll finden, dass ihr Kind so kreativ ist? Dass nicht andere dafür zuständig sind, den liegengelassenen Müll zu entsorgen und ihnen der Anwohner, durch dessen nicht umzäunten Vorgarten sie mit dem Fahrrad pesen wollen, ihnen nicht zwangsläufig Platz machen muss? Natürlich sind viele Kinder gut erzogen und lassen erahnen, dass sie im Erwachsenenalter ihre gute Kinderstube nicht vergessen werden, aber es entsteht zunehmend der Eindruck, dass die Minderheit der, nennen wir sie mal “nicht so gut erzogenen Kinder” dominanter wird.
Für ein Zusammenleben braucht es Regeln. Diese ändern sich zwar im Laufe der Zeit – niemandem käme es wohl mehr in den Sinn, seinen Kindern beizubringen, die eigenen Eltern zu siezen – aber um als „Kollektiv“ gut miteinander auszukommen, kann es nicht nur Egoisten geben, die von frühester Kindheit an dazu ermuntert werden, sich von niemandem etwas sagen zu lassen. Gutes Benehmen zu erlernen und einen moralischen Kompass zu entwickeln hat nichts mit Gleichschaltung zu tun, sondern könnte helfen, dass sich wieder Ärzte um wirklich Kranke und nicht um gebrochene Arme wegen einer Pausenhofrauferei kümmern können, dass Rettungskräfte sich wieder um Verletzte kümmern können, statt jemanden abstellen zu müssen, der den Sichtschutz gegen Gaffer festhalten muss und dass Gerichte wieder schneller reagieren können, weil sie sich nicht mit Nachbarschaftsstreitigkeiten und Beleidigungen aufhalten müssen.
Muss es, um die nötigsten Benimm-Regeln zu lernen, ein eigenes Fach geben oder kann das in der Grundschule vielleicht im Deutsch-Unterricht mit einfließen? Ein eigenes Fach würde dem Ansinnen natürlich mehr Ernsthaftigkeit verleihen, darüber müsste sich aber das Kultusministerium Gedanken machen und kann nicht von uns auf der Straße gelöst werden. Wir können nur ansetzen bei der nachschulischen Betreuung, im Verein, im Konfirmationsunterricht, im Jugendclub usw. Zu beobachten ist manchmal auch, wie Kinder sich gegenseitig “erziehen”. Wenn zwei Kinder dem dritten, das Steine auf vorbeifahrende Autos wirft, sagen “das macht man aber nicht”, dann ist ja alles gut. Sollte aber der umgekehrte Fall eintreten und die zwei Steinewerfer bringen das dritte Kind dazu mitzumachen, kostet es mehr Mühe, hinterher wieder alles zu kitten, als beizeiten dem Kind die Rücksichtnahme auf andere beigebracht zu haben.