Deutschland brauch immer mehr Ehrenamtler, um die Not aufzufangen. Auch die Bahnhofsmission in Lübeck bildet da keine Ausnahme. Sie wird immer mehr gefordert und immer öfter frequentiert.
Man könnte die Ökumenische Bahnhofsmission Lübeck fast übersehen. Sie hat ihre Räume versteckt unter den Backsteinarkaden links vom Haupteingang des Bahnhofs und muss sich immer wieder auf neue Herausforderungen einstellen. Unter anderem die Pandemie, das Eintreffen der Geflüchteten aus der Ukraine und das 9-Euro-Ticket.
Blaue Schilder weisen den Weg zu einem hell erleuchteten Fenster. Hier befindet sich seit Anfang 2021 die Ausgabe-Luke der Bahnhofsmission. Die ehrenamtliche Helferin Heike Bastian begrüßt jeden Gast freundlich, reicht mal einen Kaffee raus, eine Tüte mit einem Käsebrot oder auch etwas Süsses.
Klientel der Bahnhofsmission hat sich verändert
“Die Klientel hat sich sehr verändert”, beobachtet Heike Bastian. Sie kommt aus Reinfeld und arbeitet seit Mai 2018 einmal in der Woche bei der Bahnhofsmission. “Ich habe den Eindruck, dass einsame, ältere Menschen aus dem Bahnhofsumfeld, die uns als Anlaufstelle gesehen und bei uns einen Kaffee getrunken oder einen Klönschnack gesucht haben, den Weg nicht mehr so zu uns finden. Für die war es schön, sich hier reinzusetzen, sich zu unterhalten. Das hat sich verändert. Es gab einmal im Monat ein sehr schönes Frühstück, das wurde immer sehr gut angenommen. Das haben wir jetzt gar nicht mehr.”
Zunehmend Anlaufstelle für Suchtkranke
Wie an so vielen Orten, sind auch hier geliebte und gewohnte Dinge der Pandemie zum Opfer gefallen – so auch das beliebte Frühstück. Zurzeit werden keine Gäste in die engen Räumlichkeiten der Bahnhofsmission hineingelassen, stattdessen gibt es die Ausgabe-Luke. Hier kommen zunehmend auch Gäste mit Suchthintergrund. Das hat damit zu tun, dass der Drogentreffpunkt am Krähenteich von der Stadt aufgelöst wurde. Der Bahnhofsvorplatz und eine nahegelegene Grünanlage wurden zunehmend zum Treffpunkt für Menschen mit Hilfebedarf.
“Wir hatten einige Monate, in denen auch Menschen auf Entzug herkamen und sehr nervös waren”, erzählt Susanne Möllers. Sie ist seit Januar 2022 Leiterin der Bahnhofsmission. “Diese Situation hat einigen Ehrenamtlern Sorgen bereitet. Wir bekommen hier die Arbeit der Bundespolizei, Landespolizei und der Ordnungsdienste der Stadt Lübeck mit. Das hat uns alle vor große Anforderungen gestellt. Mit vereinzelten aggressiven Ausbrüchen sind Nicht-Fachleute auch mal überfordert.”
Jeder Tag in der Bahnhofsmission ist anders
Die Bahnhofsmission sieht sich als niedrigschwellige Anlaufstelle für “alle”. Pöbeleien habe es immer schon gegeben, sagt Ehrenamtlerin Heike Bastian. Grundsätzlich aber sei das Klima ruhig. “Die meisten sind friedlich und wissen, was sie an uns haben. Sie wissen, dass auch ein Platzverweis drohen könnte.” In der zweiten Hälfte des Monats sei meistens mehr los, weil das Geld knapp werde. “Das merken wir, weil die Leute sich vermehrt einen Kaffee oder Brot holen”, schildert die Ehrenamtliche. “Man kann aber nie voraussagen, wie der Tag läuft, das ist auch das Reizvolle an dieser Arbeit. Man hat auf einmal eine Situation, auf die man reagieren muss und versucht eine Lösung zu finden.”
Eng vernetzt mit der Deutschen Bahn und der Bundespolizei
Die Mitarbeitenden der Bahnhofsmission sind eng vernetzt – mit der Bundespolizei eine Tür weiter, mit den Sicherheitsleuten der Bahn und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern am Servicepunkt, aber auch mit den zahlreichen anderen Hilfsangeboten in der Stadt, an die sie gegebenenfalls verweisen. “Wir gehören zur Gesamtsituation Bahnhof. Wir wollen ihn zu einem angenehmen Ort machen, wo gute Erlebnisse möglich sind und Leute sicher reisen und Hilfe bekommen”, sagt Susanne Möllers. Hilfe leisten die rund 15 ehrenamtlichen Mitarbeiter:innen der Bahnhofsmission an ganz unterschiedlichen Stellen.
Dazu gehört die Begleitung von Menschen mit Behinderung, Umsteigehilfen, aber auch Unterstützung beim Fahrkartenkauf oder anderen kurzfristigen Problemen. “Es gibt Menschen, die wir schon seit Jahren fest betreuen, aber auch Anfragen, die uns per Mail oder telefonisch erreichen”, schildert Möllers.
Auch als die ersten Geflüchteten aus der Ukraine eintrafen, war das Team der Bahnhofsmission gefordert. Mit Sprach-Apps und Kommunikation „mit Händen und Füßen“ versuchte man auch hier zu helfen, Anlaufstellen zu vermitteln oder schlicht mit Essen und Getränken auszuhelfen.
9-Euro-Ticket sorgt für Extremsituationen am Bahnhof
“In der Bahnhofsmission sprechen wir von Gästen”, betont Susanne Möllers. “Das hat damit etwas zu tun, dass sie hier am Bahnhof Reisende sind. Sie kommen an, sie fahren ab, sie verweilen. Und manche hängen auch rum. Es ist ein Ort der Begegnung im weitesten Sinne und für manche auch ein Ort des Schutzes.” Mit der Einführung des 9-Euro-Tickets potenzierten sich die Aufgaben um ein Vielfaches, erzählt sie. “Leute kamen nicht an die Züge, Reisegruppen wurden auseinandergerissen. Züge fielen aus. Menschen waren verzweifelt. Das haben auch die langjährigen Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter noch nie erlebt. Und da waren manche Fahrgäste, die nicht schnell und flexibel reagieren konnten, aufgeschmissen.
Wir machen keinen Unterschied. Wir bieten für alle Hilfe an. Jemand, der Schwierigkeiten mit dem Zugfahren hat, kann uns ansprechen.”
Menschen am äußersten Rand erreichen
Die Ökumenische Bahnhofsmission Lübeck gibt es seit über 100 Jahren. Träger sind die Gemeindediakonie Lübeck und der Caritasverband. Unterstützt wird sie auch durch viele Spenden. So reichen viele Lübeckerinnen und Lübecker auch im Vorbeigehen Kaffee, Tee oder Schlafsäcke herein oder spenden Geld.
Armut hat viele Gesichter, das beobachten Susanne Möllers und ihr Team immer wieder. “Wir haben hier im Winter auch Menschen erlebt, die draußen geschlafen haben, völlig unzureichend bekleidet, mit Badelatschen. Ich muss sagen: Diese Form von Armut hatte ich bisher im Stadtbild nicht wahrgenommen. Und ich habe 40 Jahre im Jugendamt gearbeitet. Ich kenne Armut in vielen Ausprägungen.” Sie ergänzt: “Es gibt Menschen, die mit dem vorhandenen Hilfesystem nicht erreicht werden. Die nicht daran teilnehmen wollen, nicht in Gemeinschaftsunterkünfte wollen. Da kann die Bahnhofsmission Präsenz zeigen. An einem Rand, den es gibt. Und dieser Rand ist ganz schön groß.”
Das Straßenbild habe sich verändert, sagt auch Heike Bastian, die immer mehr Menschen beobachtet, die Papierkörbe durchsuchen. Gleichzeitig habe die verdeckte Armut zugenommen. “Wir haben auch junge Menschen, auf dem Weg zur Uni, die sich hier morgens ein Brot abholen”, fügt Susanne Möllers hinzu.
Den Bahnhof etwas menschlicher machen
Wenn Heike Bastian und ihre Kolleginnen und Kollegen bekleidet mit ihren leuchtend blauen Westen durch die Bahnhofshalle gehen, sprechen sie Menschen, die hilfsbedürftig aussehen, gezielt an: “Ich habe keine Berührungsängste, obwohl ich die Gefahr auch sehe”, sagt die Renterin. “Seit ich hier bin, habe ich, außer Beschimpfungen, die man nicht persönlich nehmen darf, keine schlechten Erfahrungen gemacht. Es ist keiner auf mich losgegangen. Man darf nicht blauäugig sein, aber wir haben ja auch Ansprechpartner, die hier helfen.”
Das Ehrenamt habe sie sich bewusst ausgesucht, weil sie vor allem der Kontakt mit den Menschen reizt. “Wir bekommen eine Ausbildung und auch Fortbildungen, die bezahlt werden. Das ist ein gutes Angebot” Und eines liebt sie besonders an ihrem Job am Bahnhof: “Die Tätigkeit macht hier alles ein bisschen menschlicher. Auch wenn jemand sich nicht dankbar zeigt, hat man dem vermutlich dennoch was Gutes getan.”
Wie kann ein Weg aus der Pandemie aussehen?
Für das Jahr 2023 stehen neue Aufgaben an. “Wie kann ein Weg aus der Pandemie aussehen? Wie können wir wieder Normalität in den Innenräumen anbieten?” Das sind zentrale Fragen, die sich Susanne Möllers und ihr Team stellen. Langfristig soll es wieder einen Ort geben, wo man sich in Ruhe niederlassen kann, vielleicht auch wieder ein Frühstück einmal im Monat.
Die Bahnhofsmission kann noch Unterstützung von Ehrenamtlichen brauchen!
Gearbeitet wird in einem Schichtsystem, von 8:30 Uhr bis 13 Uhr und von 13 Uhr bis 17:30 Uhr. In Schnupperdiensten können Interessierte herausfinden, ob die Aufgabe etwas für sie ist. Weitere Informationen gibt es auf der Homepage der Gemeindediakonie Lübeck: www.gemeindediakonie-luebeck.de. Kontakt: Susanne Möllers, Leitung Ökumenische Bahnhofsmission, Telefon: 0451 82121, moellers@gemeindediakonie-luebeck.de